Aussuchen gibt's nich!

5. November 1945. In Höhe der Metallgießerei Kloth-Senking in Hildesheim stieß der ausfahrende Personenzug nach Gronau mit dem einfahrenden Zug aus Hannover frontal zusammen. 35 Personen starben, 148 wurden verletzt.

Unter den Toten war auch der Vater meines Vaters, Heinrich Hagemann. Gerade 24 Jahre alt, hatte er den Krieg erfolgreich überlebt und war auf dem Weg zu seiner Frau und seinem Sohn in Nordstemmen. Auf dem Hildesheimer Hauptbahnhof hatte er noch seinen Bruder getroffen - wollte aber heim. Im Zug bot er einer jungen Frau seinen Sitzplatz an - die überlebte. Mein Großvater dagegen starb.

Mein Vater war bis zu diesem Abend jeden Abend vor die Tür getreten und hatte an einer bestimnten Stelle gewartet: "Pappa pommt!" An diesem Abend jedoch blieb er im Haus mit der Begründung "Pappa pommte nich!".

Als meine Großmutter ihren Mann identifizieren sollte - den sie zudem gut zwei Jahre nicht gesehen hatte - konnte sie ihn in der Reihe toter Unteroffiziere nicht erkennen. Daher hob sie jeweils die Kopfbedeckung leicht vom Gesicht der Toten. Worauf die aufsichtshabende Reichsbahnerin sie anraunzte: "Aussuchen gibt's nich!" Schließlich sah sie aber doch noch in das friedlich lächelnde Gesicht ihres Mannes.

Beinahe wäre aber noch ein Fremder unter seinem Grabstein begraben worden - als mein Großonkel seinen Bruder vor der Beerdigung noch einmal sehen wollte, lag ein Fremder im Sarg. Möglicherweise handelte es sich dabei um den Namensvetter meines Großvaters, denn bei dem Unglück starben zwei Männer gleichen Namens.

Mein Großvater liegt auf dem Friedhof in Sehlem begraben. Schon so lange, dass das Grab bereits eingeebnet wurde, als ich ein kleiner Junge war. Ich bin schon älter, als er jemals werden durfte. Und wenn mir noch mal einer erzählt, die Sicherheit Deutschlands werde am Hindukusch verteidigt, passiert etwas Unpazifistisches.

(Erstveröffentlichung am 9. Juli 2010 um 18:10 Uhr)

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