Oma



15. August 2013. Heute vor 30 Jahren saß ich über meinen Hausaufgaben und hörte meine Mutter nebenan im Wohnzimmer telefonieren. "Hatte sie denn keine Medikamente mehr?" hörte ich sie fragen und ganz nüchtern deduzierte mein Verstand: Oma ist tot. Das war eine rein logische Schlussfolgerung. Gefühlt hab ich in dem Moment nichts. Überhaupt nichts. Das kam erst später und ist eigentlich auch noch immer nicht vorbei.

Meine Großmutter mütterlicherseits war manisch-depressiv. Die letzten Jahre waren auch für uns als ihre Familie nicht einfach. Schließlich hat sie ihr Leben selbst beendet, und zwar auf eine Art, die zweifellos eine grauenhafte Entschlossenheit erfordert, um sie bis zum Ende durchzuführen.

Bevor sie krank wurde, war meine Großmutter eine resolute, lebenslustige und weltgewandte Frau. Nachdem sie das Haus ihrer Mutter geerbt hatte, zog sie mit ihrem Mann von Wuppertal nach Sehlem. Das muss ungefähr 1976 gewesen sein. Ich glaube, der Umzug von der Großstadt ins graue Dorf am Ende der Welt hat ihr nicht gutgetan. Aber was letztlich die Ursache für ihre Erkrankung war, was so finster war, dass sie schließlich den Freitod wählte, können wir nur vermuten. Diese Vermutungen möchte ich hier nicht wiedergeben.

Eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen ist, wie ich mit sechs oder sieben Jahren mal ganz allein zu ihr gefahren bin, den ganzen Weg vom Ostbahnhof in Hildesheim mit dem Akkutriebwagen bis nach Bodenburg und dann weiter mit dem Bus nach Sehlem. Und als ich in die Küche kam, stand Oma grad vom Sofa auf - sie hatte die Gartenpforte gehört - und freute sich und es gab Heidesand zum Einstippen. Es hätte auch anders sein können, denn anrufen konnte man vorher nicht, sie hatte kein Telefon.

Und noch heute sitze ich, wenn es gewittert und ich die Augen zumache, wieder mit Oma in der offenen Garage und futtere frischgepflückte Kirschen. "Oma, jetzt hab ich Durst!" - "Auf Steinobst darf man nichts trinken." - "Warum nicht?" - "Dann werden die Kirschen im Bauch ganz groß und du platzt." Geglaubt hab ich das ja nicht so richtig. Getrunken aber vorsichtshalber auch nichts.

Meine wohl letzte Erinnerung an sie ist, dass sie meinen Bruder und mich aus dem Kofferraum des Autos meiner Eltern befreite, in den ich uns versehentlich eingesperrt hatte. Da war sie schon ziemlich am Ende, sprach kaum, bewegte sich hölzern und wirkte wie hinter Glas.

Ich erinnere mich auch und vor allem, dass ich, Kind das ich war, ziemlich unwirsch darauf reagierte, wenn sie mir melancholisch übers Haar strich. "Lass das, Oma!" Vielleicht war es die instinktive Abwehr des Kindes gegen den seelischen Abgrund, der sich neben ihm auftut und in den es nicht gerissen werden will. Vielleicht war es auch einfach nur gemein von mir. Womöglich ein wenig von beidem. Darüber bin ich mir bis heute noch nicht klar.

Zur Beerdigung haben meine Eltern uns nicht mitgenommen. Sie fanden, wir seien für sowas noch zu klein und hatten wahrscheinlich auch recht. Noch Jahre nach ihrem Tod meinte ich immer wieder, sie gesehen zu haben oder dachte, wenn wir nach Sehlem fuhren: Wir fahren zu Oma. Ach... Nein. Sie ist ja nicht mehr da.

Oma hatte immer "Bolschen" in der Tasche, bis zuletzt. Und auch in der Keksdose im Wohnzimmer gab es stets welche. Als ihr Mann viele Jahre später starb und wir den Haushalt auflösten, habe ich diese 50er-Jahre Keksdose von Tchibo an mich genommen. Darin verwahre ich heute die Gummibärchen für meine Nichte. Einstippen hat das Kind schon von seiner Oma gelernt.

Wenn alles gutgeht, wird meine Nichte noch dieses Jahr eine andere Uroma kennenlernen. Das erfüllt mich mit Freude, aber auch mit großer Wehmut, dass die, von der hier die Rede ist, das nicht mehr erleben kann. Ich glaube, die beiden hätten sich gut verstanden und ich hätte es beiden so gegönnt. Aber diese Oma ist vor 30 Jahren einen anderen Weg gegangen und das hat Auswirkungen bis in meine Gegenwart.

(Erstveröffentlichung: 14. August 2013 um 22:11 Uhr)


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