Wenn er volljährig ist, hole ich ihn wieder ab.

Nach dem Tod ihres ersten Mannes wurden die Mutter meines Vaters und ihr Sohn ein Opfer deutscher Bürokratie: Als Kriegerwitwe galt die junge Frau nicht - schließlich war ihr Mann ja nicht den Heldentod gestorben, sondern ganz zivil bei einem Unglücksfall. Und die Reichsbahn wollte auch nicht zahlen - der Verunglückte war leider nicht im Besitze eines gültigen Fahrausweises gewesen. Wo kommwer denn da hin, da könnt ja jeder kommen...

So war das Geld knapp und Schmalhans Küchenmeister. In ihrer Not fuhr meine Großmutter schließlich mit meinem Vater nach Hannover - mit dem Zug und auf Bahnsteigkarte. Dort marschierte sie zur Reichsbahndirektion, wo sie an einen gewissen Dr. Körner verwiesen wurde. Der Herr Doktor war äußerst wohlgenährt, um nicht fett zu sagen. Offenbar hatte er keine kriegsbedingten Versorgungsprobleme. Glattzüngig versuchte er, die Bittstellerin abzuwimmeln.

Daraufhin setzte meine Großmutter meinen damals gerade drei Jahre alten Vater auf des Herrn Direktors Schreibtisch und sagte: "Das ist mein Sohn. Lassen Sie ihm alles angedeihen, was ich ihm gegeben hätte. Wenn er volljährig ist, hole ich ihn wieder ab." Sprachs, drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Büro.

Trotz seiner Beleibtheit hatte der gute Doktor meine Großmutter vor dem Ende der Treppe eingeholt und sagte ihr eine monatliche Zahlung von RM 46 zu. Geht doch. Geht doch...

(Erstveröffentlichung 9. Juli 2010 um 18:52 Uhr)


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